Illusionen - fesselnd real

Von Jessica Gygax

Wie der Mensch reagiert, wenn man ihm die Möglichkeit gibt, etwas mit den Sinnen wahrzunehmen, fasziniert uns schon seit Jahrzehnten. In der Fachsprache wird ein Reizentzug sensorische Deprivation genannt und führt zu unglaublich realwirkenden visuellen und/oder akustischen Wahrnehmungen. Unser Hirn wurde lange von der Meinung regiert, dass Trugwahrnehmungen (auch Illusionen oder Halluzinationen genannt) zwingend mit psychischen Problemen zu tun haben müssen. Dies ist jedoch ein grosser Irrglaube.

In diesem Blogbeitrag möchten wir Ihnen gerne einen kurzen Einblick in die Welt der Illusionen gewähren und Sie darauf sensibilisieren, dass vor allem Personen mit geringer Sehleistung  – das kann auch aufgrund einer Augenerkrankung sein – empfänglich sind für visuelle Illusionen. Das bedeutet aber nicht, dass ein psychisches Problem vorliegt. 

Das «Charles-Bonnet-Syndrom»

Dass ein alleiniger visueller Reizentzug grosse Effekte haben kann, hat schon der Genfer Naturforscher Charles Bonnet 1760 festgestellt. Er dokumentierte die Halluzinationen seines Grossvaters, welcher an einem stark fortgeschrittenen grauen Star (Trübung der Augenlinse) litt.

Halluzinationen, die beim Charles-Bonnet-Syndrom auftreten, können simpel oder auch komplex sein und halten wenige Sekunden bis zu mehreren Stunden an. Eine simple Halluzination kann zum Beispiel eine geometrische Form oder ein wildes Farbenspiel sein. Komplexere Halluzinationen lassen sich hingegen sehr gut mit einem Traum vergleichen. Hierbei werden andere Menschen, Tiere oder auch ganze Szenerien wahrgenommen.

Lange konnte man es nicht glauben, dass Halluzinationen trotz guter psychischer Gesundheit auftreten können. So verdrängten die Forscher Bonnets Entdeckung über 200 Jahre lang. 1996 wurde erstmals eine Studie in einem grösseren Rahmen durchgeführt. Untersucht wurden 500 Patienten, die nur noch über ein geringes Sehvermögen verfügten.
Das Resultat: 12 %, also fast jede neunte Person, erfüllten die Kriterien für ein Bonnet-Syndrom. Siehe Forschungsergebnisse in untenstehender Tabelle.

Mit den neuesten Erkenntnissen ist klar: Heute ist das Charles-Bonnet-Syndrom weit verbreitet, auch wenn die Dunkelziffer wohl ziemlich hoch ist. Hauptgrund dafür ist der noch immer geringe Bekanntheitsgrad des Syndroms. Und Betroffene reden nicht gern darüber, weil sie befürchten, als verrückt abgestempelt zu werden oder Medikamente verabreicht zu bekommen.

Das Charles-Bonnet-Syndrom lässt sich auch auf den Gehörsinn übertragen. Dies beschrieb 2009 der niederländische Mediziner Joep Tuerlings. Personen mit geringerer Hörfähigkeit nahmen Geräusche wahr, die in Realität nicht vorhanden waren.

Eigentlich sehen wir mit unserem Gehirn

Natürlich fragt man sich, woher diese fesselnd realen Illusionen stammen. Grundsätzlich haben wir für jedes Objekt, welches wir kennen, eine Gruppe von Nervenzellen, die gemeinsam ein Signal abgeben, wenn wir das Objekt sehen. So haben wir zum Beispiel eine Nervenzellgruppe für das Objekt «Stuhl». Jedesmal, wenn wir einen Stuhl sehen, wird diese Gruppe aktiv und sagt uns: «Das ist ein Stuhl». In unserem Gehirn befinden sich tausende gespeicherte Muster, die wir auch abrufen können, ohne dass es mit den Augen gesehen werden muss. Wir sehen somit nicht direkt mit den Augen, sondern mit unserem Gehirn.

Ist unserem Gehirn zu schnell langweilig?

Heute ist bekannt, dass sich unsere Nervenzellgruppen im Gehirn ständig spontan und zufällig entladen. So entstehen Bilder in unserem Kopf, die nicht vorhersehbar sind, aber real wirken. Normalerweise sehen wir diese Bilder nicht, da sich unser Gehirn ständig mit anderen Dingen beschäftigt. Legen wir uns jedoch in einer ruhigen Umgebung entspannt hin, schliessen unsere Augen und konzentrieren uns auf die Schwärze der Innenseite unserer Augenlider, fangen wir an, Illusionen zu sehen. Genau das Gleiche passiert auch, wenn unser Gehirn nur noch schlechte oder wenige Signale unserer Augen bekommt. Das kann aufgrund eines grauen Stars, einer altersbedingten Makuladegeneration oder vieler weiterer Augendegenerationen/-erkrankungen sein.

Unserem Hirn wird also nicht zu schnell langweilig. Es lässt jedoch die Wahrnehmung selbst erzeugter Impulse zu, wenn wir es nicht mit äusseren Reizen durch unsere Sinne versorgen.

Schauen Sie sich diesen Infofilm zum Charles Bonnet Syndrom an – eindrücklich

Youtube Video auf Englisch